Einleitung

Sie werden als Gruppe sehr viele große, mittlere und kleine Entscheidungen treffen. Wie kann dies auf leichte und elegante Weise geschehen? UND, ich sage mit Absicht leicht und elegant, weil Ihr Cohousingprojekt Ihnen Freude bereiten soll! Stellen Sie sich ihre strahlenden Gesichter am Ende eines Treffens vor. Gemeinsam haben Sie weitreichende Entscheidungen getroffen, die ihr Herz erfreuen und von denen Sie aus tiefster Seele überzeugt sind. Wie Sie dies möglich machen, ist hier das Thema!

Dafür geben ich Ihnen als Erstes einen Überblick über unterschiedliche Entscheidungsmethoden. Dieser Überblick ist in einer Übersichtstabelle zusammengefasst. Alle diese Methoden sind mir im Verlauf meiner Befragung begegnet. Das heißt, es gibt diese Entscheidungsmethoden in der Praxis von Wohnprojekten. Einige der Entscheidungsmethoden sind mehr geeignet, andere weniger.

Vorab eine grundsätzliche Feststellung: Wie gut die jeweiligen Verfahren funktionieren, hängt unmittelbar davon ab,

  • wie die Entscheidungen mit Arbeitsgruppen und weiteren Schritten vorbereitet sind,
  • ob und wie die Versammlung moderierend begleitet wird
  • und wie erfahren und wie vertrauensvoll die Teilnehmer miteinander sind.

Kommen wir jetzt zu den unterschiedlichen Verfahren.

Entscheidungsbildung im Konsens

Der Klassiker in sozialen Projekten ist der Wunsch, im Konsens zu entscheiden. Das ist ja auch sehr anziehend. Alle werden beteiligt. Jeder wird gehört. Keiner wird überstimmt. Als Gegensatz zu hierarchischen Strukturen ist das auf den ersten Blick einfach überzeugend.

Aber diese Entscheidungsmethode hat auch Schattenseiten. Einzelne können Entscheidungen komplett blockieren oder hinauszögern. Dies kann zu einer Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners führen. Durch das Vetorecht haben es insbesondere innovative, neuartige Lösungen häufig schwer.

Die fehlgeschlagene Konsensbildung geht mit als endlos empfundene Diskussionen ohne Ergebnis einher. Wenn sich eine Gruppe erstmal an einem Thema festgebissen hat, kann es eine erhebliche Zerreißprobe für die Gruppe sein. Insbesondere, wenn sich rund um die strittige Entscheidung Lager bilden.

Inwiefern es in einer Gruppe zu solche einer Zerreißprobe kommt, hängt auch von der Reife der Beteiligten und der gemeinsam entwickelten Gesprächskultur ab. Und wie gut eine Entscheidung durch vorherige Austauschrunden vorbereitet wurde. Die Konsensmethode hat aber keinen in der Methode selbst eingebauten Mechanismus, um dies zu stützen. Deshalb ist es ein aktueller Trend, dass Gruppen mit einer Konsenskultur zum systemischen Konsensieren und/oder zur soziokratischen Methode wechseln.

Bezüglich der Entscheidung für neue Mitglieder gibt es Abwandlungen der Konsensentscheidung, die hilfreich sein können:
Es muss eine bestimmte Anzahl an engagierten Befürwortern geben, die entweder mit dem neuen Mitglied in einem Haus (Projekt mit mehreren Häusern), oder in unmittelbarer Nachbarschaft, oder als Teil einer WG (wenn Projekt mit WGs) leben wollen. Dann und nur dann darf es eine bestimmte Anzahl an Neins oder eines bestimmten Prozentsatzes an Neins geben.

Entscheidungsbildung mit systemischen Konsensieren

Das Grundprinzip des Systemsichen Konsensierens ist die Messung des Widerstands, anstelle der Zustimmung. Es besteht Einstimmigkeit bzgl. „Keinen erheblichen Einwand“.

Die Entscheidungsbildung folgt einem strukturierten Ablauf und ist entweder extern oder von einem Gruppenmitglied moderiert. Der Ablauf besteht aus den Phasen:

  1. Der Vorschlag wird vorgestellt.
  2.  Einer Meinungsbildungsrunde mit der Möglichkeit, den Vorschlag zu ergänzen oder zu modifizieren.
  3. Der modifizierte Vorschlag wird zur Abstimmung gestellt: Kein Einwand, Arme überkreuz; Einfacher Einwand, ein Arm hoch; Erheblicher Einwand, beide Arme hoch.
  4. Liegt ein erheblicher Einwand vor, wird als Erstes diese Person nach dem Grund gefragt. Dann die Person mit dem einfachen Einwand. Danach erfolgt eine neue Meinungsbildungsrunde mit dem Ziel, die aufgetauchten Einwände in eine neue gemeinsame Lösung zu integrieren.

Im Ablauf sind zwei Gestaltungsmittel enthalten, die eine Entscheidungsfindung erleichtern. Erstens kommt nacheinander jeder im Kreis während der Meinungsbildungsrunde zu Wort. Dadurch ist eine Ruhe im Ablauf der Meinungsbildung, die es erleichtert, auf die Argumente voneinander aufzubauen und einen gemeinsamen Vorschlag zu entwickeln. Zweitens, muss der Einzelne von dem konkreten Vorschlag nicht begeistert sein, sondern prüft für sich, ob sie/er damit leben kann. Dadurch kommt eine konstruktive Grundhaltung ins gemeinsamen Vorgehen, die einen grundsätzlichen Streit über z.B. Farbnuancierungen sehr erschwert.

Das systemische Konsensieren ist gut geeignet, wenn die Gruppe noch klein ist. Wenn die Gruppe wächst und die Delegation von Entscheidungen sinnvoll wird, stößt diese Methode an Grenzen.

In einem Cohousingprojekt sind nach der gemeinsamen Entwicklung der Vision, im Bauprozess hunderte von kleineren und mittleren Entscheidungen zu treffen. Damit ist das Plenum dann bald überfordert. Hier zur Illustrierung ein Zitat aus einer Cohousinggruppe, die zu Beginn bei kleinerer Gruppengröße erfolgreich mit dem systemischen Konsensieren gearbeitet hat und dann zur Soziokratie gewechselt ist.

Es waren vielleicht nicht mehr so viele elementare und grundlegende Entscheidungen von großer Tragweite, aber es   war  eine unglaubliche Zahl von mittleren und kleineren Entscheidungen. Die alle im Plenum zu behandeln, das hat uns vollkommen fertiggemacht. In so einer Runde mit 30 Leute hat es ewig gedauert.
Zitat Wohnprojekt Gennesaret (neuer Name Mauerseglerei)

Konsententscheidungen mit der soziokratischen Methode

Die Konsententscheidung ist Teil der soziokratischen Managementmethode. Bei der Konsententscheidung wird ebenfalls der Widerstand abgefragt. Die Frage ist, „Gibt es einen schwerwiegenden Einwand“?

Es ist ebenfalls ein strukturiertes Verfahren, bei der die Meinungsbildung so erfolgt, dass einer nach dem anderen im Kreis seine Meinung zum Vorschlag sagt. Dies führt – wie auch beim systemischen Konsensieren schon erwähnt – zu einer entspannten Ruhe im Meinungsbildungsprozess, weil jeder drankommt und keiner im Idealfall da zwischen ruft und damit die Diskussion dominiert.

Es gibt zwei wesentliche Unterschiede zum systemischen Konsensieren. Erstens muss der schwerwiegende Einwand in Bezug auf das gemeinsame Ziel begründet werden. Man kann nicht einfach so aus dem Bauch heraus dagegen sein. Dies setzt voraus, dass es ein gemeinsames Ziel gibt. Das heißt, bevor Entscheidungen gefällt werden, muss die gemeinsame Zielsetzung benannt werden. Wenn Sie einen systematischen Visionsprozess mit der Formulierung von Leitsätzen durchlaufen haben, sind diese Leistsätze eine excellente Basis.

Zweitens ist die Konsentenscheidung Teil einer Kreisstruktur für das gesamte Cohousingprojekt. Hierbei werden Aufgaben in thematische Kreise delegiert, die dann auch die Entscheidungskompetenz für ihren vorher festgelegten Kompetenzbereich (domain) haben. Wie sich dies zu einer Willensbildung verknüpft, bei dem trotz Delegation der Entscheidung an Dritte, der Einzelne ausreichend Gestaltungsmacht entwickelt, um mit den Entscheidungen einverstanden zu sein, stelle ich unter dem Bottom Soziokratie vor.

Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass die Soziokratie weiterhilft, wenn die Gruppe wächst und die Menge der zu treffenden mittleren und kleinen Entscheidung mit Näherrücken des Baubeginns zunimmt.

Entscheidungsbildung mit Mehrheiten

Die Abstimmung mit einfacher Mehrheit ist ungeeignet für Cohousingprojekte. In der Befragung ist sie mir in Projekten mit der Rechtsform WEG begegnet. Die Rechtsform WEG ist eine relativ häufige für Cohousingprojekte. In einer WEG wird in der Teilungserklärung das Abstimmungsverfahren geregelt. Achten Sie darauf, dass dort nicht durch Unaufmerksamkeit eine einfache Mehrheit vereinbart wird. Die einfache Mehrheit begünstigt Koalitionsbildung, bei denen Entscheidungen gegen den Wunsch anderer Bewohner/Miteigentümer herbeigeführt werden können. Dies kann zu erheblichem Ärger führen.

Die Zweidrittel-Mehrheit ist eine Möglichkeit, wenn sie zur Kultur der Gruppe passt. Die zweidrittel Mehrheit fördert eine ausführlichere Diskussion des Sachverhalts, bis eine Entscheidung wirklich reif ist. Meistens werden dann die Entscheidungen sogar einstimmig getroffen, weil die gefundene Lösung passt. Das folgende Zitat aus dem Cohousingprojekt Hütten und Paläste beschreibt beispielhaft wie mit eine zweidrittel-Mehrheit in Verbindung mit Vorbereitung einer Beschlussvorlage gearbeitet werden kann.

Was auch z.B. unsere Architekten schätzen, ist unser Abstimmungsverhalten. Ich habe es zwischendrin immer wieder mal kritisiert oder darüber gelacht, aber wir sind wirklich durch die „harte Schule der Basisdemokratie“ gegangen. Bei uns wird nach Mehrheit entschieden. Das ist tatsächlich bei allen in Fleisch und Blut übergegangen. Wir differenzieren sofort, wenn jemand einen Vorschlag macht, ob wir beispielsweise eineWand rot anstreichen wollen. Dann wird zunächst ein Stimmungsbild gemacht und wenn das Stimmungsbild ergibt, dass sich dafür eine Mehrheit finden könnte, dann schreibt jemand die Beschlussvorlage. Die Beschlussvorlage muss dann auch wieder eine gewisse Weile ruhen, damit alle sich darüber nochmal Gedanken machen können. In einer darauffolgenden Sitzung wird die Beschlussvorlage diskutiert, bevor sie dann entschieden wird, und dann eben immer nach Zweidrittelmehrheit. Wir sind inzwischen alle auch gut darin, Stimmrechte weiterzugeben. Dieses Wahrnehmen der Stimme und dieses Diskutieren und den Meinungsaustausch, das haben wir – glaube ich – alle immer wieder auch gehasst, aber im Endeffekt auch wertgeschätzt. …. Und die Entscheidungen sind fix und trotzdem aber nicht in Stein gemeißelt. Wenn man merkt, dass man mit einer Entscheidung nicht leben kann oder bei der nachträglich offensichtlich wird, dass man sie revidieren muss, dann tun wir das.
Zitat Hütten und Paläste

Ein großer Vorteil des Verfahrens der Zweidrittelmehrheit ist die Handlungsfähigkeit, wenn nur Einzelne gegen eine Entscheidung sind. Das kann hilfreich sein, wenn Einzelne sich von dem ursprünglichen gemeinsamen Wertekern entfernt haben, oder diesen gar nicht erst geteilt haben. Hierbei denke ich an Projekte, die unter Zeit- und Finanzdruck zum Ende hin Mitglieder aufgenommen haben.

Es ist gut möglich, die Zweidrittelmehrheit mit einer Entscheidungsvorbereitung in AGs zu kombinieren. Dies ist besonders für komplexere oder größere Themen, die das Plenum überfordern würden, zu empfehlen.

Zusammenfassung:

Es wurden unterschiedliche Entscheidungsmethoden mit ihren Vor- und Nachteilen vorgestellt. Es ist Aufgabe der Pioniergruppe, auszuprobieren, welche Entscheidungsmethode zu der Vision und auch der Kultur des Projektes passt. Wie gut die jeweiligen Methoden funktionieren, hängt unmittelbar davon ab,

  • wie die Entscheidungen in die gesamte Organisationsstruktur, mit Arbeitsgruppen und vorbereiteten Schritten zur Lösungssuche, eingebunden sind,
  • wie erfahren und vertrauensvoll die Teilnehmer miteinander sind,
  • und ob die Versammlung moderierend (intern oder extern) begleitet wird .

Zuletzt aktualisiert am 21. März 2018